Entstand aus folgender Diskussion zwischen Franz Nahrada und Hans Gert Graebe in Wien am 20.10.2005.


Frage: Ist der Begriff der Selbstentfaltung tragfähig? Das heißt, kann er als primärer Begriff verwendet werden? Kann eine Theorie über die gegenwärtige gesellschaftliche Transformation vernünftigerweise auf dem Begriff der Selbstentfaltung aufgebaut werden?

HGG: Selbstentfaltung ist - wenigstens in der auf Oekonux verbreiteten Semantik - ein lokales Phänomen. Im Zentrum steht die Entfaltung eines einzelnen Indiviuduums. Der Ansatz fragt erst sekundär, wie sich die Entfaltungen der Individuen aufeinander beziehen. Das gesellschaftliche Tun der Menschen ist aber inhärent etwas Netzwerksartiges, Globales.

FN: Die Anreicherung individuellen Handelns mit reproduzierbaren und algorithmisierbaren Elementen, der Zugriff auf informationsgesteuerte Werkzeuge und wissensbasierende Methoden im Vollzug unseres Handelns ändert grundsätzlich die Bedeutung von Selbstentfaltung.

HGG: Selbstentfaltung in dem von dir eben gebrauchten Sinn ist nichts anderes als Entwicklung eines Kompetenzportfolios der konkreten Person. Und in diesem Sinn ist sie ein Teil des Sozialisierungsprozesses von Wissen. Was treibt mich, dass ich mir gerade das und nichts anderes aneigne? Die Reflexion des eigenen Handelns (Tuns). Was bestimmt mein eigenes Handeln? Im klassischen Sinne ist das im Kern die Erwerbsarbeit, aber ein solcher Arbeitsbegriff ist zu eng. Deshalb allgemeiner: Die Gestaltungsansprüche, die ich selber entwickle. Wie entwickeln sich solche Gestaltungsansprüche? Bis zum Kapitalismus waren sie stark durch Subsistenz geprägt. Mit dem Kapitalismus ("pubertäre Form einer Freien Gesellschaft" - (graebe-mawi)) werden sie stärker durch den Bezug auf Bedürfnisse anderer geprägt, auf die ich mit meinem Kompetenzportfolio besonders effizient beziehen kann.

FN: Die Ableitung überzeugt mich nicht. Ich bin der Ansicht, daß auch die Subsistenzgesellschaft immer schon arbeitsteilig war, der Bezug auf fremde Bedürfnisse inhärent, Produktion gesellschaftlich. Im Kapitalismus wird der Bezug aufs fremde Bedürfnis eher geschwächt, wie Marx in den James Mill Exzerpten ausführt. Er nennt die Produktion für fremdes Bedürfnis einen "Schein", dem die pure auf-sich-selbst-Bezogenheit der Geldmonade zugrunde liegt. "Die wahre Absicht ist die Plünderung".


Es ist unsere Entscheidung, wie wir das "Selbst" sehen. Legen wir von vornherein die uns nahegelegte Scheuklappe des bürgerlichen Denkens um, die uns weismachen will, dass das menschlich Individuelle eben nur etwas "Lokales" ist, wie HGG zu Beginn meint - oder stellen wir uns bewusst dagegen und sehen im menschlichen Individuum konsequent und offensiv immer ein "gesellschaftliches Individuum"? Letztlich ist ja der Terminus "Selbstentfaltung" genau deswegen verwendet worden (in den Oekonuxdiskussionen entstanden, im "Gegenbilder"-Buch veröffentlicht), um den Kontrast zur typisch bürgerlich-isolierend verstandenen "Selbstbestimmung" und "Selbstverwirklichung" zu verdeutlichen. Seit damals kann eigentlich niemand mehr von vorn anfangen und meinen "Selbstentfaltung" sei etwas Lokales. Zur Bestimmung des Inhalts des Terminus "Selbstentfaltung" wird seitdem ständig der Satz "Ich kann mich nicht selbst entfalten, wenn die anderen es nicht können..." genannt. Das muss nur anscheinend ständig wiederholt werden. -- Annette Schlemm


Anmerkung: Die ultimative Theorie für Transformations- und Entfaltungsprozesse findet sich in Christopher Alexander's "The Nature of Order" (Alexander). Er sieht Entfaltung nie als isolierte Veränderung an einem Zentrum (Objekt, Individuum), sondern als etwas, das immer auch in Bezug auf eine Gesamtheit ("wholeness") erfolgt. Also beiden Seiten hilft. Von den 15 empirischen Eigenschaften lebendiger Systeme drückt speziell die "Nicht-Getrennheit" ("non-separateness") dies aus. Ich habe auf http://www.wikiservice.at/gruender/wiki.cgi?EntfaltungsTheorie versucht, das genauer auszudrücken. -- HelmutLeitner

Naja, "ultimativ"... es ist erstaunlich, für wie viele auch historische Autoren es einst schon längst selbstverständlich war, nie nur einen einzelnen Menschen zu betrachten. Locke und Hobbes haben zwar so eine Tendenz, aber extrem viele andere haben auch immer die andere Tradition weiter bewahrt und entwickelt, so z.B. Hegel, für den die anderen Menschen nicht etwa die Grenze der Freiheit eines Individuums bilden, sondern er versteht „andere Menschen als Erweiterung unserer Freiheit“. Also alles alte Dinge, die wir gar nicht neu erfinden brauchen, sondern einfach mal wieder erinnern, vergegenwärtigen... -- AS


Zum Thema möchte ich anmerken, dass der Begriff der Selbst-entfaltung mehrfach wiedersprüchlich ist. Wenn er darauf hinweisen soll, dass man etwas "selbst" und nur aus sich heraus tut wiederspricht er dem Konzept der Ganzheitlichkeit. Wenn er darauf hinweisen soll, dass ein "selbst" entfaltet wird, im Gegensatz etwa zu einer aufblühenden Blume, dann ist der Begriff unangemessen homozentrisch. Wenn er beides nicht bedeuten soll, sondern "selbst" nur als Platzhalter für ein Individuum (Alexandrinisches "Zentrum") steht, dann ist das "Selbst" in der "Selbstentfaltung" überflüssig - denn was sonst sollte entfaltet werden? -- HL 3001

Literatur

(Alexander) Christopher Alexander's "The Nature of Order"

(graebe-cc-thesen) Wissen und Bildung in der modernen Gesellschaft (Chemnitzer Thesen). Siehe Oekonux/Literatur

(graebe-mawi) Die Macht des Wissen in der modernen Gesellschaft. Siehe Oekonux/Literatur

(Jantsch) Erich Jantsch: Die Selbstorganisation des Universums. Vom Urknall zum menschlichen Geist. München: dtv 2. Aufl. 1984

(Klix/Lanius) Friedhart Klix, Karl Lanius: Wege und Irrwege der Menschenartigen. Wie wir wurden, wer wir sind. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 1999.

(PM-05) Potsdamer Manifest und Potsdamer Denkschrift (PotsdamerDenkschrift2005)

Selbstentfaltung (last edited 2006-02-14 06:34:24 by HelmutLeitner)

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